Was bedeutet „Tradition“ bzw. wer definiert diese?

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Christel
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Was bedeutet „Tradition“ bzw. wer definiert diese?

Ungelesener Beitrag von Christel »

niels hat geschrieben: Was bedeutet in dem Zusammenhang "Tradition" bzw. wer definiert diese? Auch die Juden haben ja ihren Talmud bzw. Thora-Rollen, die gemäß der Traditionen "interpretiert" werden - allerdings ändern sich diese in einem eher dynamischen Prozess, der eohl wiederum Teil der Religion ist.

Im Islam machen diese Interpretationen heute die "Religionsbehörden", die es in vielen islamischen Ländern gibt - teils auch die Regierung gleich selbst (z.B. im Iran). Ganz modern sind die Dienstleistungen von allen möglichen Koran-Auslegern (zu denen sich offenbar jeder selbst berufen kann), deren Beratungsangebot man modern auch per SMS und Satelliten-TV (natürlich gegen Gebühr) in Anspruch nehmen kann. So laufen viele Moslems von "autorisiertem" Berater zu Berater, bis ihm einer sein Ansinnen im Sinne des Koran gutheisst. Es gibt ganze TV-Sendungen dazu - so wie bei uns Astro-TV & Co.

In der katholischen Kirche hingegen gibt es nur eine, zentrale Instanz - Rom. Die sich damit auf diese Menschen bündelnde Macht kann man positiv wie negativ sehen. Aber auch unter Christen / Kirche gibt es solche Strömungen - betrachte man nur mal die Millionen verdiendenden amerikanischen TV-Star-Pfarrer, die ihre Macht wohl zu schätzen wie irdisch zu nutzen wissen. Selbst G. Bush hat von diesen gelernt und benutzt ähnliche Argumente für seine "gott-wohlwollenden" Aktivitäten auf dieser Erde.
Unter Tradition verstehe ich einen „roten Faden“ bzw. die Fülle aller bisherigen Aussagen zu einem „Sachverhalt“. Es bleibt eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten, aber diese kann den Rahmen des bisher Ausgesagten weder grundsätzlich sprengen, noch widersprechen. Für die katholische Kirche bedeutet das, dass auch jeder Papst an die Tradition gebunden ist.

LG Christel
Heinrich5

Ungelesener Beitrag von Heinrich5 »

Unter traditionellem Christentum verstehe ich eigentlich etwas anders. Der Trend geht heute dahin, dass die verschiedenen christlichen Konfessionen in ihrer Bedeutung immer mehr verblassen. An ihrer Stelle treten neue Zuordnungsbegriffe:
• evangelikal (überwiegend Freikirchen)
• liberal (überwiegend Protestanten)
• traditionell (überwiegend Katholiken)

Quer durch alle christlichen Kirchen ziehen sich diese drei Strömungen. Das, was ihren Charakter ausmacht, ist das Verhältnis zum Glauben und insbesondere zur Bibel. In der katholischen Kirche überwiegen die Traditionalisten. Katholisch - Evangelikal sind weniger als 1 %. In den evangelischen Landeskirchen sind 7 – 10 % der Mitglieder Evangelikale.

Die Evangelikalen:
Die Bibel ist der allein verbindliche Maßstab des Glaubens; alles andere ist nur an ihr zu messen. Jesus Christus ist der Sohn Gottes, der persönliche Erlöser und der verheißene Messias.

Die Liberalen:
Die Bibel ist nicht das verbindliche Wort Gottes. Mit einer Inspiration der Bibel durch den Heiligen Geist und mit Gottes Wirken bei ihrer Entstehung wird nicht gerechnet. Die Bibel ist in wesentlichen Teilen menschlich, zeitbedingt und überholt. Nicht der Zeitgeist wird anhand der Bibel beurteilt, sondern umgekehrt wird die Bibel anhand des Zeitgeistes beurteilt. Die Liberalen dominieren und prägen die evangelischen Landeskirchen.

Die Traditionalisten:
Für die Traditionalisten stehen im Vordergrund die Liturgie, Rituale, Lehren und Glaubenspraxis der eigenen Kirche.
Traditionalisten dominieren und prägen die katholische Kirche. Der Glaube der Traditionalisten (Katholiken) richtet sich in emotionaler Weise an dem aus, was die eigentliche Kirche lehrt. Im Gegensatz zu Evangelikalen und Liberalen, für die Konfessionen nur geringe Bedeutung haben (jedenfalls darin sind sie sich einig), haben Traditionalisten zu Ihrer speziellen Kirche und deren Traditionen ein sehr enges Verhältnis. Das Verhältnis der Traditionalisten zur Bibel ist hingegen eher ein abstraktes: Die Bibel wird zwar nicht offen kritisiert und angegriffen wie von Seiten der Liberalen, aber sie wird auch nicht geliebt. Sie wird zwar meist mehr oder weniger als Gottes Wort angesehen – allerdings ist sie in der Regel kaum bekannt, da man sich sozusagen auf ihre rechtgläubige Vermittlung durch die Kirche verlässt. (Apostolisches Glaubensbekenntnis:...“Ich glaube an die heilige katholische Kirche“). Ein traditionell orientierter Christ geht praktisch ungeprüft davon aus, daß die Tradition und Lehre der Kirche, in die er hineingeboren wurde, „richtig“ ist, ohne daß er dies anhand der Bibel genau begründen könnte oder auch nur eine Notwendigkeit zu einer solchen Begründung sähe. Dass die Praxis der eigenen Kirche der Bibel entspricht, wird entweder ungeprüft angenommen oder aber die Aussagen der Kirche werden von vornherein als wichtiger angesehen. Konfrontiert mit Bibelstellen, die der eigenen kirchlichen Tradition widersprechen, sind Traditionalisten geneigt, wie ein Liberaler auszuwählen und wiedersprechende Stellen zu ignorieren.

Traditionelle Glaubensausrichtung wird oft wenig in Worte gefasst, sondern von den Betreffenden mehr oder weniger als selbstverständlich angesehen.
In der Ablehnung von Abtreibung, Pornographie und Homosexualität sind Traditionalisten sich oft mit Evangelikalen einig. Allerdings leiten die Evangelikalen ihre Ablehnung aus der Bibel her, während für die Traditionalisten eher die kirchliche Sicht und Tradition im Vordergrund steht – z.B. was Kirche und Papst dazu sagen.
Traditionalisten sind oft eifrige Kirchgänger, die ihren Glauben subjektiv als tiefgehend empfinden. Es sind aber nicht unmittelbar die biblischen Inhalte, die diesen Glauben prägen, sondern es sind die Lehren der Kirche, die ggf. der Bibel mehr oder weniger entsprechen. Eine bewusste Entscheidung für Jesus als Herrn und Erlöser, wie sie die Evangelikalen betonen, fehlt in der Regel. Vielmehr ist auch Jesus ein sozusagen „selbstverständliches“ Glaubensgut der Kirche, in die man hineingeboren wurde:

Im Mittelpunkt steht für Traditionalisten nicht Jesus, sondern die Kirche.

Traditionelles Christentum hat, abgesehen vom Gottesdienstbesuch oft recht wenig Auswirkungen im Alltag. Mission wird zwar im Prinzip gut geheißen, ist jedoch kein Teil des eigenen Lebens, sondern Aufgabe der Institution Kirche. Die Mission evangelikaler Gruppen auf dem vermeintlichen Territorium der eigenen Kirche wird jedoch als Bedrohung durch „Sekten“ aufgefasst.

Katholische Traditionalisten in der dritten Welt verbinden christliche Glaubensinhalte oft nahtlos mit animistischen Traditionen und Riten ( auch dies ist im Grunde ein Zeichen für Unkenntnis der Bibel und das Fehlen einer bewussten Entscheidung für Jesus). Zusätzlich zum Besuch der katholischen Messe opfern diese „Christen“ ganz selbstverständlich den Ahnen oder gehen zum Zauberer.

Es gibt mindestens 700 Millionen „Christen“, die mehr oder weniger traditionalistisch ausgerichtet sind – die Zahl ist kaum abzuschätzen, da die Grenzen auch hier sehr fließend sind. In Europa nimmt die Zahl der Traditionalisten im Zuge der Säkularisierung ab, in der dritten Welt wächst die absolute Zahl durch das Bevölkerungswachstum, jedoch langsamer als die Gesamtbevölkerung, was den prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung langsam schrumpfen lässt.

Ich habe mal, weil es mich interessiert, eine chronologische Liste erstellt, was in den letzten zweitausend Jahren katholischer Kirchengeschichte durch Konzilien und Päpste zu der ursprünglichen Lehre, wie sie noch in den urchristlichen Gemeinden gelehrt wurde, hinzugefügt wurde. Das Ganze versteht man als die Tradition der Kirche, an welche die Gläubigen gehalten sind zu glauben. Besonders betrifft das die Marienverehrung. Es ist noch nicht lange her, seitdem Katholiken verpflichtet worden sind zu glauben, dass Maria in den Himmel aufgefahren ist.

Mit freundlichen Grüßen,
Heinrich5
Heinrich5

Ungelesener Beitrag von Heinrich5 »

Ich habe vergessen, noch etwas über den Traditionalismus der Eichsfelder zu schreiben.

Die Katholiken des Eichsfeldes sind besonders ausgeprägte Traditionalisten. Im 21. Jahrhundert sind sie auf der einen Seite aufgeklärte Bürger, auf der anderen Seite können und wollen sie aber auch von ihren Traditionen nicht lassen. Sie brauchen die Kirche als eine Art Rückversicherung für den zwar unwahrscheinlichen aber eventuell doch möglichen Fall, dass es da draußen in den unendlichen Weiten des Weltalls irgendwo doch noch einen strafenden und zürnenden Gott gibt.

In der DDR war die Demonstration einer Zugehörigkeit zur Kirche eine verständliche Trotzreaktion auf den sozialistischen Polizeistaat, den keiner mochte. Die Wallfahrten hatten starken Zulauf. Heute sind diese Zahlen zwar etwas weniger geworden, aber die Beteiligung an diesen Demonstrationen einer unverbrüchlichen Zugehörigkeit zur Kirche ist immer noch groß genug, denn viele können nicht zugeben, dass sie in ihrem bisherigen Leben einem Hirngespinst angehangen haben und vielleicht gibt es doch so etwas wie einen Ort der ewigen Verdammnis mit unendlichen Feuerqualen.

In der Praxis kam es deshalb schon vor 150 Jahren zu solchen Erscheinungen:

Rudolf August Biermann, Gutsbesitzer aus Worbis, beschreibt die Teilnahme solcher Traditionalisten am sonntäglichen "Pflichtgottesdienst" schon im Jahr 1850 folgendermaßen:

"Der Stadtkirche von Worbis, ad Sanctum Nicolaum, gegenüber lag an der langen Straße ein schmales ärmliches Haus, das ich als Knabe aber stets achtungsvoll betrachtete, weil es, wie man sagte, das einzige im Landkreis sei, das drei Stockwerke aufwies. In jedem Stockwerk gab es nur eine größere Stube mit Fenstern der Langen Straße zu und einen kleineren Raum, von dem man aus in den unsauberen Hinterhof blickte. Dort stand ein dürftiger Schuppen, dessen Außenwand an die Hintergasse grenzte. In den beiden unteren Räumen dieses Hauses betrieb Joseph Wand eine Fleischerei und Schankwirtschaft. Außer einigen nicht verwöhnten Worbiser Stammtischgängern waren hauptsächlich heimische und fahrende Handwerksgesellen seine Gäste. Allsonntäglich versammelte sich morgens in Wands Schankstube eine ganz besondere Frühschoppen-Gemeinde. Sie bestand aus solchen Gliedern der katholischen Kirche, die zwar ungern die Messe besuchten, ihrem Glauben und seinen Pflichten sicherheitshalber aber auch nicht völlig abschwören mochten. So verbanden sie hier auf kluge Weise vergnügliches Beisammensein und Gottesdienst. Sommers fiel das besonders leicht. Die Fenster der kleinen Wirtschaft standen weit offen, die Portale von St. Nikolaus jenseits der Straße ebenfalls. Man lauschte also am bretternen Schankstubentisch dem auf- und abschwellenden Orgelklang samt all den zur Messe gehörenden Gesängen, schätzte besonders den herrlichen, weithinschallenden Tenor des Dechanten Huschenbett. Ließen die Ministranten die Wandlungsglöckchen erklingen, entblößten Wands fromme Zecher, während es ringsum feierlich still wurde, ihre Häupter, legten Spielkarten und Tabakspfeifen beiseite, rührten auch die Biergläser nicht an, bewegten hingegen die Lippen in unhörbarem Gebet. Anschließend führte man dann leichten Herzens die unterbrochenen Gespräche fort. So riet zum Beispiel ein Handwerksbursche dem anderen, sich beim Barbier nebenan den schmerzenden Zahn hinausbefördern zu lassen, denn so erklärte er, ihr Meister habe sie ja auch ohne jedes Mitleid fortgeschickt als er keine Arbeit mehr für sie hatte. "und", schloss der Ratgeber einleuchtend, "Du hast doch auch nicht für alle Deine Zähne Arbeit".

Diese Art gottesfürchtiger Eichsfelder hat sich in der heutigen Zeit stark vermehrt. Nur gehen sie heute nicht mehr zur Zeit des Gottesdienstes in die Kneipe neben der Kirche, dazu sind sie zu sparsam, denn die Getränke zum Gaststättenpreis sind nach 1990 nicht mehr bezahlbar, sondern sie bleiben zu Hause und schalten die Übertragung des Gottesdienstes im Fernsehen ein. Da kann man sich gemütlich bei einer Flasche Bier aus dem Getränkemarkt davor setzen oder nebenbei auch andere nützlichere Tätigkeiten vollbringen. Manche von diesen gehen noch Weihnachten oder Ostern in die Kirche, aber auch diese werden immer weniger. Trotzdem kommen sie nicht auf den Gedanken aus der Kirche auszutreten. Sie bezahlen Kirchensteuern und Kirchgeld weiter bis zum Schluss ihres Lebens, denn der Pfarrer hat ja noch die eine ganz entscheidende Aufgabe für sie zu erledigen: er muss sie mit einem christlichen, standesgemäßen Begräbnis unter die Erde bringen. Wie sollten sie auch sonst unter die Erde kommen? Alles andere ist unvorstellbar.

Ein Pfarrer Dr. Hermann Iseke, Eichsfelder Heimatdichter, würde heute nicht mehr auf die Idee kommen die vierte Strophe seiner "Eichsfeld-Hymne" von 1902 wie folgt zu dichten:

Dem Herd an dem in frommer Zucht die treue Gattin waltet ;
und Kindern, gleich des Ölbaums Frucht, die Hände betend faltet;
dem Haus, wo noch der Herrgott gilt und nicht nur, was den Magen stillt,
wo felsfenfester Glaube die Blicke hebt vom Staube.
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