Ein Krieg gegen Russland kann zur Vernichtung der Menschheit führen. - Von Gregor Gysi –
23. Jan. 2022
Warum nicht verhandeln?
Die Situation ist ernst: Während sich gut 100.000 russische Soldaten in der Nähe der Grenze zur Ukraine aufhalten, blieben verschiedene Gesprächsformate zwischen Russland, den USA, der Nato und der OSZE bisher ergebnislos. Es scheint mir sogar, man spricht über unterschiedliche Dinge: Dem Westen geht es um die militärische Bedrohung der Ukraine durch Russland, während Russland seine Sicherheitsbeziehungen zum Westen neugestalten will.
„Ich halte militärisches Vorgehen stets und von jeder Seite für falsch“: Linken-Politiker Gregor Gysi
Die Ukraine stellt ein Druckmittel Moskaus dar, die seit Jahrzehnten überhörten Forderungen nach einer Überarbeitung der europäischen Sicherheitsordnung, wie sie seit 1990 im Sinne der Gewinner des Kalten Krieges gewachsen ist, zu erreichen. Man kann dies als nicht verhandelbar bezeichnen, wie es ein Teil der Bundesregierung macht. Ich meine dagegen, man sollte darüber nachdenken.
Ich halte militärisches Vorgehen, was immer Elend und Leid für Unschuldige bedeutet, stets und von jeder Seite für falsch. Das Vorgehen Putins ist das einer machtpolitisch handelnden Großmacht. Daran ist nichts links, und wir kennen das auch von anderen Mächten. Ich hoffe, dass Putin keinen Angriff startet. Dann würde eine Verständigung auf Jahre sehr, sehr schwer.
Die von Moskau geforderten Sicherheitsgarantien sind eine Summe von Forderungen: eine Absage an weitere Nato-Osterweiterungen, keine Stationierungen der Nato an der Grenze zu Russland, ein Abzug der Atomwaffen der USA aus Europa. Wäre es nicht klug, eigene Forderungen an Russland zu formulieren, etwa ein Ende von Spionage- und Hacking-Aktivitäten, eine Reduzierung von Truppenmanövern in bestimmten Gebieten, keine Gefährdung der Souveränität der Ukraine und anderer Länder?
Dies könnte der Auftakt zu langfristigen Verhandlungen werden und die unmittelbare Kriegsgefahr wäre gebannt.
Das wäre kein Einknicken, sondern vielmehr eine Chance für mittelfristig stabilere Verhältnisse in Europa: Die KSZE-Schlussakte (1975) und die Charta von Paris (1990) sind wichtig. Letztere formuliert die Grundidee so: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“ Gorbatschow hatte diese Idee in das Wort „gemeinsames Haus Europa“ gekleidet – diese Konzeption wurde auch von Putin vor dem Bundestag 2001 betont, worauf der Westen im Überlegenheitsgefühl nicht einging.
Die Nato blieb zentrale Säule europäischer Sicherheit. Diese wurde aber gegen Russland gedacht, die OSZE wurde ins Abseits gestellt. Es folgte gegen ein Versprechen von Hans-Dietrich Genscher und dem US-Außenminister James Baker von 1990 die Osterweiterung der Nato mit 14 (!) Staaten.
Immer wird an dieser Stelle auf die Souveränität und die freie Bündniswahl hingewiesen. Das ist richtig, aber die Aufnahme beschließen andere, und es sind eben nicht die einzigen Grundsätze internationaler Vereinbarungen. Erst dadurch, dass der Westen seinen Sieg im Kalten Krieg maximal ausnutzte und Russland sich als Verlierer fühlt, konnte die Entfremdung zu uns entstehen.
Das Gegenargument, die Nato bedrohe Russland nicht, überzeugt nicht: Ihre Truppen stehen ziemlich nahe an der Grenze von Russland, Manöver finden in seiner Nähe statt, und vor allem: Dieses Argument ändert ja nicht die russische Beurteilung. Und nehmen wir einmal an, Russland schickte, wie angekündigt, schwer bewaffnete Soldaten nach Kuba und Venezuela, ließen die USA dies nicht zu. Doch wie wäre die Begründung gegen die Vereinbarungen souveräner Staaten?
Wenn viele denken, dass eine Verständigung mit Russland nicht möglich sei, so überzeugt sie vielleicht das: Ein Krieg gegen Russland kann zur Vernichtung der Menschheit führen. Die russische Führung könnte zu einem Krieg verleitet werden, wenn sie meinte, dass die Vorteile zuträglicher als die Nachteile seien. Es besteht also ein gewisser Druck, Moskau auch entgegenzukommen.
Das geforderte „Preisschild“ für die Intervention mag sich moralisch gut anhören, politisch vielversprechender ist aber der Weg umfassender Verhandlungen. Der Beginn von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Ukraine könnte wichtig sein.
Warum setze ich eigentlich diesbezüglich mehr Hoffnungen in die USA als in unsere Regierung und die EU-Kommission?
Der Autor Gregor Gysi ist außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/p ... hp&pc=U531