Was ist Humanismus?

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Christel
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Was ist Humanismus?

Ungelesener Beitrag von Christel »

Was ist Humanismus?

Je mehr ich recherchiere, was alles unter Humanismus verstanden wird, je unklarer und schwammiger wird der Begriff.
Das Wort „Humanist“ ist erstmals gegen Ende des 15. Jahrhunderts bezeugt, und zwar zunächst als Berufsbezeichnung für Inhaber einschlägiger Lehrstühle, analog zu „Jurist“ oder „Kanonist“ (Kirchenrechtler). Erst im frühen 16. Jahrhundert wurde es auch für außeruniversitäre Gebildete verwendet, die sich als humanistae verstanden.[3]
https://de.wikipedia.org/wiki/Renaissance-Humanismus
Im 15. und 16. Jahrhundert stand der Begriff „Humanismus“ für eine Bildungsbewegung:
Die Humanisten traten für eine umfassende Bildungsreform ein, von der sie eine optimale Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten durch die Verbindung von Wissen und Tugend erhofften. Humanistische Bildung sollte den Menschen befähigen, seine wahre Bestimmung zu erkennen und durch Nachahmung klassischer Vorbilder ein ideales Menschentum zu verwirklichen. Ein wertvoller, wahrheitsgemäßer Inhalt und eine vollendete sprachliche Form bildeten für die Humanisten eine Einheit. Daher galt ihr besonderes Augenmerk der Pflege des sprachlichen Ausdrucks. Der Sprach- und Literaturwissenschaft fiel im humanistischen Bildungsprogramm eine zentrale Rolle zu. Im Mittelpunkt standen dabei die Dichtkunst und die Rhetorik.
https://de.wikipedia.org/wiki/Renaissance-Humanismus
Unter wikipedia gibt es eine
„Liste der Renaissance-Humanisten“.

Allerdings vermisse ich in dieser Liste den prominenten Vertreter des Renaissance-Humanismus Erasmus von Rotterdam:
Er wurde in den Burgundischen Niederlanden, einem Teil des Heiligen Römischen Reiches, geboren und war Theologe, Priester, Augustiner-Chorherr, Philologe und Autor zahlreicher Bücher. https://de.wikipedia.org/wiki/Erasmus_von_Rotterdam
All das zeigt, dass der Humanismus ursprünglich nichts mit dem zutun hatte, was der heutige "evolutionäre Humanismus" vertritt.
„Jesus Christus, der Auferstandene, das bedeutet, dass Gott aus Liebe und Allmacht dem Tod ein Ende macht und eine neue Schöpfung ins Leben ruft, neues Leben schenkt.“ Dietrich Bonhoeffer (Das Wunder der Osterbotschaft)
Christel
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Re: Was ist Humanismus?

Ungelesener Beitrag von Christel »

Es scheint so, als hätte jede Epoche eine andere Vorstellung von „Humanismus“ hervorgebracht.

Prägend auf den Begriffsinhalt des Humanismus dürfte die Epoche der Aufklärung gewirkt haben:
- Vernunft, rationales vernunftgeleitetes an Zwecken und Zielen ausgerichtetes Denken und Handeln. Was ist vernünftig?
- Naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnisfortschritt.

Ein Zeitgeist, der auch auf die Theologie nicht ohne Einfluss blieb. Erinnert sei auf den rationalen Ansatz der historischen Jesusforschung und insbesondere an David Friedrich Strauß:
In seinem 1872 veröffentlichten Werk Der alte und der neue Glaube vertrat er bereits einen vom Materialismus beeinflussten Monismus. Die Frage, ob „wir“ noch Christen seien, beantwortete er offen mit „Nein“. Eine sich auf das als gesetzhaft funktionierend verstandene Universum richtende Religiosität sah Strauß zwar für sich nicht, hielt sie aber für eine legitime Alternative zum christlichen Glauben an Gott. https://de.wikipedia.org/wiki/David_Fri ... trau%C3%9F
Der Link auf das Buch wurde von mir eingefügt.
Daher bedauert Strauß es auch nicht, von der Kirche abgekommen zu sein. Denn mit der Kirche hat er Unglaubhaftes und Widersprüchliches hinter sich gelassen. Ihm fehlt auch nichts, aber er sieht trotzdem noch Bedarf, eine entkirchlichte Weltsicht zu profilieren. Es muss eine Ethik entworfen werden, die unabhängig von übermenschlicher Offenbarung ist. Die neue Weltanschauung muss im Gegensatz dazu eher auf dem „erkannten Wesen des Menschen“ aufbauen. Damit sind auch Gedanken der Säkularisierung angesprochen. https://de.wikipedia.org/wiki/David_Fri ... trau%C3%9F
„In seinem neuen Buch Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß propagiert Strauß einen neuen Glauben, der von Hegels Geschichtsphilosophie, von Darwins Evolutionstheorie sowie vom Weltbild der modernen Wissenschaften überhaupt nachhaltig bestimmt ist. http://www.f-nietzsche.de/HJS_NK_UZB1.pdf
In der Tat fand Strauß mit seinem Konzept einer pantheistisch ausgerichteten Humanitätsreligion, mit dem er sich energisch vom orthodoxen Christentum distanzierte, Anklang in manchen progressiv gesonnenen Gruppierungen. In diesen Kreisen galt“ ANG „sogar als eine Art von ,Kultbuch‘.“ (S. 55f.) http://www.f-nietzsche.de/HJS_NK_UZB1.pdf
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Christel
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Re: Was ist Humanismus?

Ungelesener Beitrag von Christel »

In Unzeitgemäßen Betrachtungen, Erstes Stück kritisiert Friedrich Nietzsche David Friedrich Strauß:
Die Schrift ist eine Polemik gegen den „Bildungsphilister“ David Friedrich Strauß, den Nietzsche mit derben Worten zu verhöhnen sucht. Nietzsche lehnt die sich gegen Schopenhauer wendende säkularisierte Frömmigkeit von Strauß ab und unterstellt ihm ein parasitäres Verhältnis zu den deutschen Klassikern. Strauß bediene sich einer korrupten deutschen Sprache, und so übt Nietzsche denn auch Sprachkritik im Stile Schopenhauers.[1]
https://de.wikipedia.org/wiki/Unzeitgem ... rachtungen
Weshalb kritisiert Nietzsche Strauß?

Die Antwort fand ich in dem Buch „Deutschlands Tragödie: Der geistige Weg in den Faschismus und Nationalsozialismus“ von Günther Rohrmeister, München : Olzog, 2002
Seite 169f.:
David Friedrich Strauss empfiehlt, die Welt so zu begreifen wie der Darwinismus sie erklärt. Das ist die eigentliche Pointe. David Friedrich Strauss war Darwinist. Und die letzte Frage lautet: Wie ordnen wir unser Leben? Das ist die Frage nach der Ethik. Ethisch handelt David Friedrich Strauss zufolge derjenige Mensch, der in Übereinstimmung mit der Bestimmung seiner Gattung handelt.
Wo liegt nun für Nietzsche das Problem?
Darwinistische Welterklärung und humanistische Praxis schließen sich für Nietzsche gegenseitig aus. Die naturwissenschaftliche, darwinistische Welterklärung und ethische Praxis, die sich den Interessen der ganzen menschlichen Gattung unterordnet, sind unvereinbar. Denn damit fallen in der bürgerlichen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Ethik, heillos und desperat auseinander.
„Welche Antwort hätte David Friedrich Strauss in der Sicht Nietzsches geben müssen“… „David Friedrich Strauss hätte eine darwinistische Ethik fordern müssen.“ … „dann hätte sich jeder darum bemühen dürfen, zu den Stärkeren zu gehören und jeder hätte das Recht zugesprochen bekommen, den Schwächeren zu unterdrücken.
Die Punkte markieren Weglassungen von mir.
Diese Konsequenz hätte David Friedrich Strauss und mit ihm die moderne Gesellschaft in den Augen Nietzsches redlicherweise ziehen müssen. Statt dessen flüchtet sie sich in den Humanismus
Man denkt sich die Wirklichkeit im Sinne der Naturwissenschaft und denkt sich eine Ethik aus, die damit nichts zu tun haben soll. Dieser eingetretene Bruch zwischen Wissenschaft und Ethik kennzeichnet die modere bürgerliche Gesellschaft bis heute.
So gesehen ist der Humanismus eine Ethik, die die christliche Ethik ersetzt, da der christliche Glaube verloren gegangen ist. - Damit ist Humanismus nicht mehr christlich, sondern ist säkular geworden.
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Christel
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Re: Was ist Humanismus?

Ungelesener Beitrag von Christel »

Der Begriff „evolutionärer Humanismus“ weist darauf hin, dass wir es heute mit unterschiedlichen Modellen des Humanismus zu tun haben.

Auch die „Debatte mit Joachim Kahl“ zeigt das:
Joachim Kahl, den er 1998 bei einer Veranstaltung am Bodensee kennenlernte, führte Schmidt-Salomon 2006 eine Auseinandersetzung in mehreren Veröffentlichungen, in der es um die Unterschiede zwischen Kahls „weltlichem“ und Schmidt-Salomons „evolutionärem“ Humanismus geht bzw. um die Frage, welcher Variante ein moderner Humanismus folgen sollte.[50]
https://de.wikipedia.org/wiki/Michael_S ... Positionen
Unterschiede bestehen nicht zuletzt auch in der Haltung zur Religion.
Unter www.Humanismus.de ist das Humanistische Selbstverständnis des „Humanistischen Verbandes“ (HVD) zu finden.

Darin heißt es:
"3Eintreten für eine Gesellschaft der Vielfalt: Kritik und Toleranz"
und dort weiter:
Weltanschauungen und Religionen sind menschliche Versuche, Antworten auf existenzielle Fragen zu formulieren und das eigene Leben sowie das Zusammenleben mit anderen zu deuten und zu gestalten. Zur humanistischen Lebensweise gehören wesentlich die Bereitschaft zur engagierten Auseinandersetzung über Ideen und ihren Wahrheitsgehalt sowie Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Humanistische Toleranz ist mehr als nur von oben herab gewährte Duldung und mehr auch als pragmatische Koexistenz um des lieben Friedens willen. Sie ist Respekt, Anerkennung und im besten Fall Wertschätzung des Anderen, die ihren Ausdruck auch in kritischer Auseinandersetzung mit anderen Lebensformen findet. Mit anderen Weltanschauungen und vielen Religionen verbindet uns die Ernsthaftigkeit und Leidenschaft bei der Suche nach einem guten menschlichen Leben. Wir sind aufgeschlossen für eine produktive Zusammenarbeit.
[…]
Religionsfreiheit bedeutet: Freiheit von der Religion und Freiheit zur Religion
https://humanismus.de/wp-content/upload ... is_hvd.pdf
Anders läuft das bei der giordano bruno stiftung – gbs, deren Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon ist.
Hier nimmt Religionskritik nicht nur einen breiteren Raum, sondern auch einen kämpferischen und weniger toleranten Ton ein. - Hier im Forum vertritt Atheismus diese Position!
Siehe auch:
https://www.giordano-bruno-stiftung.de/leitbild
https://www.giordano-bruno-stiftung.de/ ... Religioten

Abschließend möchte ich auf das bereits 2013 erschienene Buch von Florian Baab „Was ist Humanismus? : Geschichte des Begriffes, Gegenkonzepte, säkulare Humanismen heute“ hinweisen:

Bild
Während bildungsbürgerliche, sozialistische, existentialistische und auch christliche Humanismuskonzepte ihre Blütezeit hinter sich haben, versuchen derzeit säkular orientierte Vereinigungen den Begriff „Humanismus“ für sich zu reklamieren. Nach einer theologisch-philosophischen Begriffsgeschichte bietet der Autor eine systematische Analyse historischer und gegenwärtiger Entwürfe des Humanismus. Dabei widmet er sich insbesondere der religionskritischen Gruppierung der „säkularen Humanisten“ (Humanistischer Verband Deutschlands, Giordano-Bruno-Stiftung). https://www.amazon.de/Was-ist-Humanismu ... 379172553X
An dieser Stelle ist auch eine Leseprobe mit Inhaltsübersicht zu finden.
„Jesus Christus, der Auferstandene, das bedeutet, dass Gott aus Liebe und Allmacht dem Tod ein Ende macht und eine neue Schöpfung ins Leben ruft, neues Leben schenkt.“ Dietrich Bonhoeffer (Das Wunder der Osterbotschaft)
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Re: Was ist Humanismus?

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PS: Ergänzung zu dem oben erwähnten Joachim Kahl, der einen „weltlichen Humanismus“ im Unterschied zum „evolutionären Humanismus“ vertritt.
Als Vertreter eines klassischen Atheismus, der tief in der Theoriegeschichte der europäischen Aufklärung verwurzelt ist, grenzte Kahl seine Auffassungen zunächst gegenüber denen des sogenannten neuen Atheismus, wie er unter anderem von Richard Dawkins vertreten werde, deutlich ab[3]:
Dieser Abgrenzung gegen Dawkins gingen bereits Kritiken an Karlheinz Deschner[5] sowie an Michael Schmidt-Salomon[6] voraus.
Mehr: https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Kahl
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Re: Was ist Humanismus?

Ungelesener Beitrag von Christel »

Einen zusammenfassenden Überblick über Begriff und Geschichte des Humanismus ist auf der Seite der Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen – EZW zu finden,
in Materialdienst 12/2010 „Humanismus“ von Reinhard Hempelmann.

Der Beitrag enthält den Hinweis, dass „Humanismus“ auch heute nicht gleich bedeutend mit säkularem Humanismus bzw. Atheismus ist:
Zugleich gibt es Bemühungen, Humanismus und Religion zu verbinden; so wird ein jüdischer Humanismus aus der mitmenschlichen Begegnung begründet (Martin Buber, Emmanuel Levinas). Vor allem in Frankreich entwickelt sich ein Humanismus katholischer Prägung (Henri Bergson, Maurice Blondel, Henri de Lubac).
https://ezw-berlin.de/html/15_772.php
„Jesus Christus, der Auferstandene, das bedeutet, dass Gott aus Liebe und Allmacht dem Tod ein Ende macht und eine neue Schöpfung ins Leben ruft, neues Leben schenkt.“ Dietrich Bonhoeffer (Das Wunder der Osterbotschaft)
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