Der historische Jesus - geistesgeschichtlich missbraucht?
Verfasst: Sonntag 24. März 2024, 22:23
Textübernahme (in Auszügen) von Arthur Lechelt:
Quelle:
https://www.christentum-hinterfragt.de
Vorbemerkungen
Jesus – Jesus Christus – Christus: Drei Namen, die von den meisten Christen synonym, je nach eigenem Geschmack, für ihren (vermeintlichen) Religionsstifter benutzt werden. Eine etwas genauere Betrachtung führt allerdings zu einer deutlichen Unterscheidung. Der ursprüngliche jüdische Name Jesus bezeichnet den "historischen Jesus", d. h. einen Menschen, der – wahrscheinlich – vor rund 2000 Jahren im spätantiken Palästina geboren wurde und dort im Alter von ungefähr 30 Jahren einem politischen Mord zum Opfer fiel. Jesus Christus und Christus sind die Bezeichnungen für eine "mythische Person" (Martin Dibelius) bzw. für den neuen "christlichen Gott", also für eine von den frühen Christen geformte "Kunstfigur" (Hubertus Halbfas) antik-hellenistischen Zuschnitts.
Der Umfang der über den Menschen Jesus verfügbaren historischen Fakten ist außerordentlich dürftig. Daher lässt sich m. E. mit Fug und Recht sagen: Jesus ist "der große Unbekannte des Christentums" (Uta Ranke-Heinemann). Andererseits kann kaum bezweifelt werden, dass in den überlieferten, zwar weitgehend der Fantasie der frühen Christen entsprungenen, mythischen Texten dennoch hier und da "die Spur eines wirklichen Menschen" (Peter de Rosa) zu finden oder zumindest zu erahnen ist.
Die Frage nach der Geschichtlichkeit Jesu – hat Jesus gelebt?
Es hat wohl während der ganzen Geschichte des Christentums immer einzelne eigenständig denkende Menschen gegeben, die daran zweifelten, dass die Texte des Neuen Testaments, insbesondere die vier Evangelien, historisch verlässliche Fakten enthielten. Seit der Frühaufklärung, um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, wuchs die Zahl der "aufgeklärten" Menschen, die sich kritisch äußerten. Es ist kaum überraschend, dass im Zuge dieser Kritik auch die Geschichtlichkeit Jesu, der Hauptperson dieser Schriften, in Zweifel gezogen wurde.
Es traten dann im 19. Jahrhundert und bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts namhafte Theologen und Gelehrte in Deutschland und Frankreich sowie in anderen Ländern Europas auf, die ihre begründeten Zweifel vortrugen oder die Geschichtlichkeit Jesu sogar radikal leugneten. Wer sich hierüber detaillierter informieren möchte, sei auf die ersten Seiten der "Kritischen Kirchengeschichte" des literatur- und kirchenkritischen Schriftstellers Karlheinz Deschner (1924-2014) oder auf entsprechende Abschnitte der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von Albert Schweitzer (1875-1965) verwiesen.
Gründe für die Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu
Die Gründe für die Zweifel an der historischen Existenz Jesu ergaben sich u. a. aus der Tatsache, dass Paulus, der Verfasser der ältesten Schriften im Neuen Testament, kaum etwas Nennenswertes über das Leben Jesu berichtet. Entweder gab es nichts Konkretes darüber zu berichten oder es hat ihn nicht interessiert.
Was die Zweifel aber wohl noch eher förderte, war der Umstand, dass es, über die neutestamentlichen Schriften hinaus, keine beweiskräftigen Zeugnisse zeitgenössischer Historiker gab. Besonders erstaunlich ist dabei, dass sich nicht nur bei den römischen, sondern insbesondere auch bei den jüdischen Historikern nichts über Jesus findet. Die Schriften des bekannten jüdischen Historikers Flavius Josephus (37/38-nach 100), der Johannes den Täufer, Pilatus und Herodes erwähnt, enthalten zwar auch eine Passage über Jesus, in der seine Wundertaten und seine Auferstehung bezeugt sind. Diese wurde jedoch längst als christliche Fälschung entlarvt. Wahrscheinlich ist sie erst im 3. Jahrhundert eingefügt worden.
Schon den antiken Christen erschien Jesu historische Bezeugung derart dürftig, dass sie ein Schreiben von ihm an den König Abgar Ukhama von Edessa (4 v.- 50 n. Chr.), einen Brief des Pilatus an Kaiser Tiberius und andere ähnliche Produktionen fälschten."
Christliche Theologie interessiert sich nicht für den historischen Jesus
Bei keinem der Verfasser der im NT gesammelten Schriften lässt sich ein Interesse an historisch korrekten Informationen über den Menschen Jesus erkennen. Berücksichtigt man entsprechende Tendenzen in der damaligen Gesellschaft, so erscheint es als nicht sonderlich ungewöhnlich, dass sich die unterschiedlichen Schreiber stattdessen einem Mythos, dem Mythos vom Gottmenschen Christus, verschrieben.
Die Transformation des Menschen Jesus zur Kunstfigur Christus beginnt bei Paulus. Sie setzt sich fort über die drei synoptischen Evangelien und erreicht ihren Höhepunkt im Johannesevangelium, in dem Christus schließlich gleichgesetzt wird mit dem präexistenten »Logos« (s. auch hier). Dieser Prozess der Vergottung des Menschen Jesu war eine Folge der Konkurrenz zwischen den diversen antik-hellenistischen Religionen bzw. Mysterienkulten, in denen die Auffassung vorherrschte, dass nur «Götter» den Menschen die »Erlösung« bzw. das »Heil« bringen konnten. Das frühe Christentum war nichts anderes als ein Mysterienkult unter anderen.
Nicht Jesus, sondern Christus – die Hierarchie setzt auf den Placeboeffekt
Erich Fromm (1900-1980) reflektierte in seinem Essay Das Christusdogma sozialpsychologische Aspekte der Entwicklung des frühen Christentums. Sein Hauptaugenmerk lag dabei auf der Rolle, die Jesus bzw. Christus dabei spielte, bzw. auf der Rolle, die dieser zentralen Gestalt von den führenden Köpfen der neuen Religion zugewiesen wurde. Fromm machte deutlich, dass der Gallionsfigur des Christentums im Rahmen der Überlieferung eine entscheidende Wandlung widerfuhr: "Aus dem zum Gott gewordenen Menschen wird der Mensch gewordene Gott." Parallel dazu verlief eine ebenso bedeutende Wandlung der Religion in enger Wechselbeziehung mit der Gesellschaft: Aus der Religion "der untersten unterdrückten Schichten" wurde eine Religion "der Führer und Geführten zugleich" und zwar "unter der Führung der herrschenden Klasse" .
Für die beiden, sich gegenseitig bedingenden, Wandlungen war die hier diskutierte Frage nach der Geschichtlichkeit Jesu ohne Belang.
Erich Fromm bestätigt dies vom Standpunkt der Sozialpsychologie lapidar:
"Das Problem der Historizität Jesu braucht uns in diesem Zusammenhang nicht zu beschäftigen. Selbst wenn die urchristliche Verkündigung das Werk einer einzelnen Persönlichkeit gewesen wäre, so ist die Tatsache ihrer gesellschaftlichen Wirkung nur aus der Klasse, an die diese Verkündigung gerichtet war und von der sie aufgenommen wurde, zu verstehen, und nur das Verständnis von deren psychischer Situation ist für uns hier wichtig. Es ist dabei gleichgültig, ob sie sich eine reale Persönlichkeit, die ihren Wünschen entspricht, zum Führer wählt, oder das Bild eines Führers, wie sie ihn sich wünscht, fantasiert."
Am Beispiel des Christentums stellt Fromm also fest, dass es für die jeweiligen Gläubigen einer Religion gleichgültig ist, ob der Gegenstand ihres Glaubens eine reale Persönlichkeit oder ein entsprechendes, nur in ihrer Fantasie existierendes, Bild ist. Die Wirkung auf die "psychische Situation" der Gläubigen ist dieselbe. Nach dieser Erkenntnis kann ebenso lapidar gesagt werden: In der Medizin bezeichnet man das analoge Phänomen schlicht als Placeboeffekt.
Albert Schweitzer stellt eine "religionsphilosophische Frage"
Ein namhafter Theologe, dem "intellektuelle Redlichkeit", zumindest in seinen wissenschaftlichen Studien, m. E. nicht abgesprochen werden kann, war Albert Schweitzer (1875-1965). Dies ist in seiner 1906 erschienenen umfangreichen Geschichte der Leben-Jesu-Forschung spürbar. Er äußert darin erstaunliche Gedanken und bürstet dabei gegen den gewohnten theologischen "Strich". Im Abschnitt, in dem er sich mit den radikalen Leugnern, u. a. mit dem Philosophen Arthur Drews (1865-1935), und mit den theologischen Verteidigern der Geschichtlichkeit Jesu befasst, kann man Folgendes lesen (s. S. 512/513):
"Darum geht etwas wie ein Misston durch all dieses zuversichtliche Widerlegen hindurch. Es wirkt niederdrückend, dass die Theologie ihre geschichtliche Behauptung auf Leben und Tod verteidigen muss, weil davon ihre Religion abhängt.
Dazu kommt, dass vom Standpunkt des strengen wissenschaftlichen Denkens aus sowohl die positive wie die negative Ansicht überhaupt nicht auf zwingende Art zu beweisen sind. Im letzten Grunde bleibt jede geschichtliche Behauptung, die sich auf vergangene, von uns nicht mehr direkt nachzuprüfende Zeugnisse stützen muss, eine Hypothese. […]
Darum ist die religionsphilosophische Frage viel wichtiger als alles geschichtliche Beweisen und Widerlegen. Das moderne Christentum muss von vornherein und immer mit der Möglichkeit einer eventuellen Preisgabe der Geschichtlichkeit Jesu rechnen. Es darf also seine Bedeutung nicht künstlich dahin steigern, dass es alle Erkenntnis auf ihn zurückführt und die Religion »christozentrisch« ausbaut. Der Herr kann immer nur ein Element der Religion sein; nie aber darf er als Fundament ausgegeben werden.
Anders ausgedrückt: Die Religion muss über eine Metaphysik, das heißt eine Grundanschauung über das Wesen und die Bedeutung des Seins, verfügen, die von Geschichte und überlieferten Erkenntnissen vollständig unabhängig ist und in jedem Augenblick und in jedem religiösen Subjekt neu geschaffen werden kann. Besitzt sie dieses Unmittelbare und Unverlierbare nicht, so ist sie Sklave der Geschichte und muss sich in knechtischem Geiste fortwährend gefährdet und bedroht sehen."
Im Kapitel 25 Schlussbetrachtung formuliert Schweitzer folgendes Fazit seiner umfangreichen Forschungen:
"Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem Werk die Weihe zu geben, hat nie existiert. Er ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde." (S. 620)
Annahme der Existenz des "historischen Jesu"
Wie aus den bisherigen Überlegungen deutlich wurde, ist die Geschichtlichkeit Jesu für die Glaubenspraxis des organisierten Christentums ohne jede Bedeutung. Dennoch halte ich es für sinnvoll und notwendig, eine Antwort auf die Frage nach der realen Existenz des Menschen Jesu zu suchen, zumal dann, wenn es der Anspruch an intellektuelle Redlichkeit unmöglich macht, einer Kunstfigur auch nur den geringsten Einfluss auf das eigene Bewusstsein zuzugestehen.
Da – bis auf weiteres – wohl keine der gegensätzlichen Positionen in der Lage sein wird, überzeugende Beweise vorzulegen, neige ich dem pragmatischen Ansatz zu, der Position mit der etwas größeren Wahrscheinlichkeit den Vorzug zu geben. Der Grad der angenommenen Wahrscheinlichkeit stützt sich insbesondere auf die Ergebnisse der Analyse von Jesus-Worten und -taten in den überlieferten Texten des NT. Theologen haben Prüfkriterien entwickelt, mit deren Hilfe es möglich wurde, eher "echte" von eher "unechten" Jesus-Worten und -taten zu unterscheiden. Nach Auffassung des Theologen Gerd Lüdemann (*1946) lässt sich insbesondere daraus die Wahrscheinlichkeit der historischen Existenz Jesu herleiten:
"Der entscheidende Grund dafür, die historische Existenz Jesu anzunehmen, ergibt sich aus der Einzelanalyse der vorhandenen Jesus-Texte selbst. Sie hat nicht nur die meisten von ihnen als unecht, sondern auch einen überschaubaren Kern als echt erwiesen. Im Zug der Analyse schälten sich Methoden heraus, authentische und nichtauthentische Texte voneinander zu trennen."
Echt oder unecht – für die frühen Christen ohne Bedeutung
Anhand Jesu »Gebot der Feindesliebe« (s. Mt 5,44) zeigt Herbert Braun beispielhaft auf, welches Kriterium für dessen Echtheits- oder Unechtheits-Nachweis in Frage kommt: Ein Jesuswort ist wahrscheinlich echt, wenn es "jüdischem Denken widerspricht". Er führt weiter aus:
"Hier ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Annahme gerechtfertigt, dass wir in solch einem Spruch der Tradition ein Wort aus dem Munde Jesu, ein echtes Jesuswort vor uns haben. Ich sagte: »mit großer Wahrscheinlichkeit«. Denn ausgeschlossen ist es auch in diesem Falle nicht, dass ein judenchristlicher Überlieferer die Art Jesu gut begriffen, aber den Spruch gleichwohl selber formuliert hat; dass solch ein Wort zwar typisch für Jesus, aber trotzdem – was die Formulierung anlangt – unecht ist. Ich hoffe die Situation der Forschung ist aus alledem dem Leser grundsätzlich klar geworden: eine absolute Sicherheit gibt es nicht; aber bei entsprechender Vorsicht kann das Urteil einen mehr oder minder hohen Grad der Wahrscheinlichkeit erreichen."
Es spricht für die intellektuelle Redlichkeit Herbert Brauns, dass er ganz unmissverständlich klarstellt: "Eine absolute Sicherheit gibt es nicht".
Daraus leitet die große Verantwortung für alle Theologen ab, die sich mit der Interpretation von Jesus-Worten und -Taten befassen. Nach meiner Erfahrung sind sich insbesondere die Theologen auf den Kanzeln dieser Verantwortung kaum bewusst. Sie gehen in ihren Predigten sehr unbekümmert, um nicht zu sagen leichtfertig, mit den einschlägigen Textpassagen aus dem Neuen Testament um.
Von den Überlieferern, den Schreibern, Abschreibern, Nacherzählern oder Dichtern der frühchristlichen Schriften wurden Jesus Worte über das baldige Weltende, über das Kommen des Reiches Gottes bzw. über die bevorstehende eigene Wiederkunft in den Mund gelegt. Dieser Jesus weissagte zudem, dass die angekündigten "letzten Dinge" noch zu Lebzeiten mancher seiner Zuhörer geschehen würden.
Quelle:
https://www.christentum-hinterfragt.de
Vorbemerkungen
Jesus – Jesus Christus – Christus: Drei Namen, die von den meisten Christen synonym, je nach eigenem Geschmack, für ihren (vermeintlichen) Religionsstifter benutzt werden. Eine etwas genauere Betrachtung führt allerdings zu einer deutlichen Unterscheidung. Der ursprüngliche jüdische Name Jesus bezeichnet den "historischen Jesus", d. h. einen Menschen, der – wahrscheinlich – vor rund 2000 Jahren im spätantiken Palästina geboren wurde und dort im Alter von ungefähr 30 Jahren einem politischen Mord zum Opfer fiel. Jesus Christus und Christus sind die Bezeichnungen für eine "mythische Person" (Martin Dibelius) bzw. für den neuen "christlichen Gott", also für eine von den frühen Christen geformte "Kunstfigur" (Hubertus Halbfas) antik-hellenistischen Zuschnitts.
Der Umfang der über den Menschen Jesus verfügbaren historischen Fakten ist außerordentlich dürftig. Daher lässt sich m. E. mit Fug und Recht sagen: Jesus ist "der große Unbekannte des Christentums" (Uta Ranke-Heinemann). Andererseits kann kaum bezweifelt werden, dass in den überlieferten, zwar weitgehend der Fantasie der frühen Christen entsprungenen, mythischen Texten dennoch hier und da "die Spur eines wirklichen Menschen" (Peter de Rosa) zu finden oder zumindest zu erahnen ist.
Die Frage nach der Geschichtlichkeit Jesu – hat Jesus gelebt?
Es hat wohl während der ganzen Geschichte des Christentums immer einzelne eigenständig denkende Menschen gegeben, die daran zweifelten, dass die Texte des Neuen Testaments, insbesondere die vier Evangelien, historisch verlässliche Fakten enthielten. Seit der Frühaufklärung, um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, wuchs die Zahl der "aufgeklärten" Menschen, die sich kritisch äußerten. Es ist kaum überraschend, dass im Zuge dieser Kritik auch die Geschichtlichkeit Jesu, der Hauptperson dieser Schriften, in Zweifel gezogen wurde.
Es traten dann im 19. Jahrhundert und bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts namhafte Theologen und Gelehrte in Deutschland und Frankreich sowie in anderen Ländern Europas auf, die ihre begründeten Zweifel vortrugen oder die Geschichtlichkeit Jesu sogar radikal leugneten. Wer sich hierüber detaillierter informieren möchte, sei auf die ersten Seiten der "Kritischen Kirchengeschichte" des literatur- und kirchenkritischen Schriftstellers Karlheinz Deschner (1924-2014) oder auf entsprechende Abschnitte der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von Albert Schweitzer (1875-1965) verwiesen.
Gründe für die Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu
Die Gründe für die Zweifel an der historischen Existenz Jesu ergaben sich u. a. aus der Tatsache, dass Paulus, der Verfasser der ältesten Schriften im Neuen Testament, kaum etwas Nennenswertes über das Leben Jesu berichtet. Entweder gab es nichts Konkretes darüber zu berichten oder es hat ihn nicht interessiert.
Was die Zweifel aber wohl noch eher förderte, war der Umstand, dass es, über die neutestamentlichen Schriften hinaus, keine beweiskräftigen Zeugnisse zeitgenössischer Historiker gab. Besonders erstaunlich ist dabei, dass sich nicht nur bei den römischen, sondern insbesondere auch bei den jüdischen Historikern nichts über Jesus findet. Die Schriften des bekannten jüdischen Historikers Flavius Josephus (37/38-nach 100), der Johannes den Täufer, Pilatus und Herodes erwähnt, enthalten zwar auch eine Passage über Jesus, in der seine Wundertaten und seine Auferstehung bezeugt sind. Diese wurde jedoch längst als christliche Fälschung entlarvt. Wahrscheinlich ist sie erst im 3. Jahrhundert eingefügt worden.
Schon den antiken Christen erschien Jesu historische Bezeugung derart dürftig, dass sie ein Schreiben von ihm an den König Abgar Ukhama von Edessa (4 v.- 50 n. Chr.), einen Brief des Pilatus an Kaiser Tiberius und andere ähnliche Produktionen fälschten."
Christliche Theologie interessiert sich nicht für den historischen Jesus
Bei keinem der Verfasser der im NT gesammelten Schriften lässt sich ein Interesse an historisch korrekten Informationen über den Menschen Jesus erkennen. Berücksichtigt man entsprechende Tendenzen in der damaligen Gesellschaft, so erscheint es als nicht sonderlich ungewöhnlich, dass sich die unterschiedlichen Schreiber stattdessen einem Mythos, dem Mythos vom Gottmenschen Christus, verschrieben.
Die Transformation des Menschen Jesus zur Kunstfigur Christus beginnt bei Paulus. Sie setzt sich fort über die drei synoptischen Evangelien und erreicht ihren Höhepunkt im Johannesevangelium, in dem Christus schließlich gleichgesetzt wird mit dem präexistenten »Logos« (s. auch hier). Dieser Prozess der Vergottung des Menschen Jesu war eine Folge der Konkurrenz zwischen den diversen antik-hellenistischen Religionen bzw. Mysterienkulten, in denen die Auffassung vorherrschte, dass nur «Götter» den Menschen die »Erlösung« bzw. das »Heil« bringen konnten. Das frühe Christentum war nichts anderes als ein Mysterienkult unter anderen.
Nicht Jesus, sondern Christus – die Hierarchie setzt auf den Placeboeffekt
Erich Fromm (1900-1980) reflektierte in seinem Essay Das Christusdogma sozialpsychologische Aspekte der Entwicklung des frühen Christentums. Sein Hauptaugenmerk lag dabei auf der Rolle, die Jesus bzw. Christus dabei spielte, bzw. auf der Rolle, die dieser zentralen Gestalt von den führenden Köpfen der neuen Religion zugewiesen wurde. Fromm machte deutlich, dass der Gallionsfigur des Christentums im Rahmen der Überlieferung eine entscheidende Wandlung widerfuhr: "Aus dem zum Gott gewordenen Menschen wird der Mensch gewordene Gott." Parallel dazu verlief eine ebenso bedeutende Wandlung der Religion in enger Wechselbeziehung mit der Gesellschaft: Aus der Religion "der untersten unterdrückten Schichten" wurde eine Religion "der Führer und Geführten zugleich" und zwar "unter der Führung der herrschenden Klasse" .
Für die beiden, sich gegenseitig bedingenden, Wandlungen war die hier diskutierte Frage nach der Geschichtlichkeit Jesu ohne Belang.
Erich Fromm bestätigt dies vom Standpunkt der Sozialpsychologie lapidar:
"Das Problem der Historizität Jesu braucht uns in diesem Zusammenhang nicht zu beschäftigen. Selbst wenn die urchristliche Verkündigung das Werk einer einzelnen Persönlichkeit gewesen wäre, so ist die Tatsache ihrer gesellschaftlichen Wirkung nur aus der Klasse, an die diese Verkündigung gerichtet war und von der sie aufgenommen wurde, zu verstehen, und nur das Verständnis von deren psychischer Situation ist für uns hier wichtig. Es ist dabei gleichgültig, ob sie sich eine reale Persönlichkeit, die ihren Wünschen entspricht, zum Führer wählt, oder das Bild eines Führers, wie sie ihn sich wünscht, fantasiert."
Am Beispiel des Christentums stellt Fromm also fest, dass es für die jeweiligen Gläubigen einer Religion gleichgültig ist, ob der Gegenstand ihres Glaubens eine reale Persönlichkeit oder ein entsprechendes, nur in ihrer Fantasie existierendes, Bild ist. Die Wirkung auf die "psychische Situation" der Gläubigen ist dieselbe. Nach dieser Erkenntnis kann ebenso lapidar gesagt werden: In der Medizin bezeichnet man das analoge Phänomen schlicht als Placeboeffekt.
Albert Schweitzer stellt eine "religionsphilosophische Frage"
Ein namhafter Theologe, dem "intellektuelle Redlichkeit", zumindest in seinen wissenschaftlichen Studien, m. E. nicht abgesprochen werden kann, war Albert Schweitzer (1875-1965). Dies ist in seiner 1906 erschienenen umfangreichen Geschichte der Leben-Jesu-Forschung spürbar. Er äußert darin erstaunliche Gedanken und bürstet dabei gegen den gewohnten theologischen "Strich". Im Abschnitt, in dem er sich mit den radikalen Leugnern, u. a. mit dem Philosophen Arthur Drews (1865-1935), und mit den theologischen Verteidigern der Geschichtlichkeit Jesu befasst, kann man Folgendes lesen (s. S. 512/513):
"Darum geht etwas wie ein Misston durch all dieses zuversichtliche Widerlegen hindurch. Es wirkt niederdrückend, dass die Theologie ihre geschichtliche Behauptung auf Leben und Tod verteidigen muss, weil davon ihre Religion abhängt.
Dazu kommt, dass vom Standpunkt des strengen wissenschaftlichen Denkens aus sowohl die positive wie die negative Ansicht überhaupt nicht auf zwingende Art zu beweisen sind. Im letzten Grunde bleibt jede geschichtliche Behauptung, die sich auf vergangene, von uns nicht mehr direkt nachzuprüfende Zeugnisse stützen muss, eine Hypothese. […]
Darum ist die religionsphilosophische Frage viel wichtiger als alles geschichtliche Beweisen und Widerlegen. Das moderne Christentum muss von vornherein und immer mit der Möglichkeit einer eventuellen Preisgabe der Geschichtlichkeit Jesu rechnen. Es darf also seine Bedeutung nicht künstlich dahin steigern, dass es alle Erkenntnis auf ihn zurückführt und die Religion »christozentrisch« ausbaut. Der Herr kann immer nur ein Element der Religion sein; nie aber darf er als Fundament ausgegeben werden.
Anders ausgedrückt: Die Religion muss über eine Metaphysik, das heißt eine Grundanschauung über das Wesen und die Bedeutung des Seins, verfügen, die von Geschichte und überlieferten Erkenntnissen vollständig unabhängig ist und in jedem Augenblick und in jedem religiösen Subjekt neu geschaffen werden kann. Besitzt sie dieses Unmittelbare und Unverlierbare nicht, so ist sie Sklave der Geschichte und muss sich in knechtischem Geiste fortwährend gefährdet und bedroht sehen."
Im Kapitel 25 Schlussbetrachtung formuliert Schweitzer folgendes Fazit seiner umfangreichen Forschungen:
"Der Jesus von Nazareth, der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches verkündete, das Himmelreich auf Erden gründete und starb, um seinem Werk die Weihe zu geben, hat nie existiert. Er ist eine Gestalt, die vom Rationalismus entworfen, vom Liberalismus belebt und von der modernen Theologie in ein geschichtliches Gewand gekleidet wurde." (S. 620)
Annahme der Existenz des "historischen Jesu"
Wie aus den bisherigen Überlegungen deutlich wurde, ist die Geschichtlichkeit Jesu für die Glaubenspraxis des organisierten Christentums ohne jede Bedeutung. Dennoch halte ich es für sinnvoll und notwendig, eine Antwort auf die Frage nach der realen Existenz des Menschen Jesu zu suchen, zumal dann, wenn es der Anspruch an intellektuelle Redlichkeit unmöglich macht, einer Kunstfigur auch nur den geringsten Einfluss auf das eigene Bewusstsein zuzugestehen.
Da – bis auf weiteres – wohl keine der gegensätzlichen Positionen in der Lage sein wird, überzeugende Beweise vorzulegen, neige ich dem pragmatischen Ansatz zu, der Position mit der etwas größeren Wahrscheinlichkeit den Vorzug zu geben. Der Grad der angenommenen Wahrscheinlichkeit stützt sich insbesondere auf die Ergebnisse der Analyse von Jesus-Worten und -taten in den überlieferten Texten des NT. Theologen haben Prüfkriterien entwickelt, mit deren Hilfe es möglich wurde, eher "echte" von eher "unechten" Jesus-Worten und -taten zu unterscheiden. Nach Auffassung des Theologen Gerd Lüdemann (*1946) lässt sich insbesondere daraus die Wahrscheinlichkeit der historischen Existenz Jesu herleiten:
"Der entscheidende Grund dafür, die historische Existenz Jesu anzunehmen, ergibt sich aus der Einzelanalyse der vorhandenen Jesus-Texte selbst. Sie hat nicht nur die meisten von ihnen als unecht, sondern auch einen überschaubaren Kern als echt erwiesen. Im Zug der Analyse schälten sich Methoden heraus, authentische und nichtauthentische Texte voneinander zu trennen."
Echt oder unecht – für die frühen Christen ohne Bedeutung
Anhand Jesu »Gebot der Feindesliebe« (s. Mt 5,44) zeigt Herbert Braun beispielhaft auf, welches Kriterium für dessen Echtheits- oder Unechtheits-Nachweis in Frage kommt: Ein Jesuswort ist wahrscheinlich echt, wenn es "jüdischem Denken widerspricht". Er führt weiter aus:
"Hier ist mit großer Wahrscheinlichkeit die Annahme gerechtfertigt, dass wir in solch einem Spruch der Tradition ein Wort aus dem Munde Jesu, ein echtes Jesuswort vor uns haben. Ich sagte: »mit großer Wahrscheinlichkeit«. Denn ausgeschlossen ist es auch in diesem Falle nicht, dass ein judenchristlicher Überlieferer die Art Jesu gut begriffen, aber den Spruch gleichwohl selber formuliert hat; dass solch ein Wort zwar typisch für Jesus, aber trotzdem – was die Formulierung anlangt – unecht ist. Ich hoffe die Situation der Forschung ist aus alledem dem Leser grundsätzlich klar geworden: eine absolute Sicherheit gibt es nicht; aber bei entsprechender Vorsicht kann das Urteil einen mehr oder minder hohen Grad der Wahrscheinlichkeit erreichen."
Es spricht für die intellektuelle Redlichkeit Herbert Brauns, dass er ganz unmissverständlich klarstellt: "Eine absolute Sicherheit gibt es nicht".
Daraus leitet die große Verantwortung für alle Theologen ab, die sich mit der Interpretation von Jesus-Worten und -Taten befassen. Nach meiner Erfahrung sind sich insbesondere die Theologen auf den Kanzeln dieser Verantwortung kaum bewusst. Sie gehen in ihren Predigten sehr unbekümmert, um nicht zu sagen leichtfertig, mit den einschlägigen Textpassagen aus dem Neuen Testament um.
Von den Überlieferern, den Schreibern, Abschreibern, Nacherzählern oder Dichtern der frühchristlichen Schriften wurden Jesus Worte über das baldige Weltende, über das Kommen des Reiches Gottes bzw. über die bevorstehende eigene Wiederkunft in den Mund gelegt. Dieser Jesus weissagte zudem, dass die angekündigten "letzten Dinge" noch zu Lebzeiten mancher seiner Zuhörer geschehen würden.